Ich habe lange überlegt, wie ich meine momentane Lebenssituation beschreiben würde, wenn ich gefragt würde. Für mich trifft es Schwebezustand am Ehesten… es fühlt sich an, als würde ich gerade Stück für Stück haltgebende Wurzeln verlieren. Mit einer entscheidenden Ausnahme- mein Herzmann steht fest an meiner Seite. Das macht meinen Schwebezustand deutlich erträglicher, jedoch nicht minder traurig. Mit Großpapas Tod ist mir definitiv klargeworden, dass eine meine Wurzeln unwiederbringlich weggebrochen ist. Ich bin -noch nicht- soweit, das ich sagen kann, es gehört zum Leben dazu, ich bin nach wie vor traurig über diesen Verlust.
Vielleicht tut er doppelt weh, weil es nur ein zusätzlicher ist? Über viele Jahre hinweg war ich Teil eines „Kleeblatts“ … eine feste, verschworene Runde von vier Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, sei es charakterlich, menschlich, wie optisch. Und trotzdem waren wir, sobald wir zusammen waren EINE FESTE MAUER. Wir haben soooo unendlich viel gemeinsam erlebt. Reisen, berufliche Veränderungen, Trennungen, neue Lieben, Hochzeiten, Schwangerschaften, es gab nichts, was wir nicht gemeinsam geschafft hätten. Es war immer klar, egal wer aus diesem Kleeblatt zu egal welcher Zeit in Not war, oder Kummer und Sorgen hatte, ein Anruf hätte genügt-Rettung und Unterstützung wäre sofort in Sicht gewesen. Es war klar, keine ist allein, keine muss sich verstellen, jede darf einfach sein, ohne sich erklären zu müssen. Dieses blinde Verstehen, diese unantastbare Selbstverständlichkeit, waren immer ein Faktum. War. Wir haben uns verloren, sind in der Mitte zerbrochen. Wann genau das passiert ist, kann ich nicht mal sagen. Schmerzhaft bewusst geworden ist es mir zum ersten Mal im August letzten Jahres. Ich hatte mein MS-Diagnose bekommen und wollte dies meiner Freundin am Telefon erzählen, musste dann aber erfahren, dass sie gerade mit ihrem Mann in der Notaufnahme saß, weil dieser einen Schlaganfall hatte. Wie brutal kann das Schicksal zuschlagen? Ich war geschockt. Wie musste sich meine Freundin bloß fühlen? Wir zwei haben dann täglich telefoniert, und uns gegenseitig Mut zugesprochen, wir waren, wie immer, Seite an Seite. Was uns beiden zu der Zeit Kraft gegeben hat, das Tal zu durchschreiten. Die andere Hälfte des Kleeblatts hat sich leider sehr, sehr rar gemacht. Was bis heute so geblieben ist. Wir haben uns vor ein paar Tagen in „voller Besetzung“ getroffen, nach Mooooooonaaaaten…. Es war grausam. Ich habe gefühlt mit einer Freundin und zwei fremden Frauen an einem Tisch gesessen. Ich hätte am liebsten laut geschrien! Was war das??? Wir kennen uns soooo viele Jahre, und nun sitzen wir an einem Tisch wie Fremde, und reden halbherzig über „Vermischtes“. An diesem Tag ist für mich definitiv eine starke, wenn auch schon länger schwächelnde, Wurzel abgestorben.
Als wäre das nicht schon Herausforderung genug, haben mein Herzmann und ich am Freitag die Kündigung unserer Wohnung bekommen. Eigenbedarf. Bäm! Nach 17 Jahren… Wir wohnen in einem Einfamilienhaus im Obergeschoss. Uns verbindet, verband? ein freundschaftliches, ja fast familiäres Verhältnis mit unserer Vermieterin. Wir haben uns blind vertraut, so sind beide Wohnungen nie abgeschlossen gewesen, unsere Katzen sind genauso gern unten, wie oben. Es gab herrlich gemütliche gemeinsame Frühstücke oder Fernsehabende im Schlafanzug. Wir haben tolle, gemeinsame Partys gefeiert- legendär unsere Fussball-WM-Abende gemeinsam mit Freunden und Nachbarn. Genauso gut haben wir respektiert, wenn einer Ruhe und Distanz brauchte. Wir haben kleine und große Krisen gemeinsam durchstanden, wie ein altes Ehepaar. Es war völlig normal Dinge einfach und unkompliziert zu besprechen, weil man sich vertraut und respektiert hat. Vor zwei Tagen haben wir eine schriftliche Kündigung wegen Eigenbedarf bekommen, in der es vor Paragraphen nur so wimmelt. Wir werden sogar gebeten, einen „Termin zur offiziellen Übergabe“ zu vereinbaren. BÄM! Ich kann den Eigenbedarf verstehen, ich akzeptiere ihn voll und ganz. Aber nach so vielen Jahren, in denen es nie wirklich ernsthafte Probleme gab, eine solche Kündigung? Völlig unerwartet, ohne ein persönliches Wort? Das tut weh. Wir sind in Schockstarre über das „Wie“, nicht über das „Warum“. Es hat vorgestern innerlich laut geknackt… eine weitere Wurzel ist tief angerissen, und hat das Gefühl, hier befreundet, familiär, vertraut zu wohnen mit einem Schlag in „ich bin nur Mieter“ verändert. Mein Herzmann hat mich gefragt, warum das Schicksal uns schon wieder auf eine Probe stellt. Nach kurzer Überlegung muss ich sagen, ich verstehe das Schicksal auch nicht… es hat uns in den letzten Jahren immer und immer wieder Hürden gestellt, aber, wir haben jede übersprungen, und bislang keine Latte gerissen. Dieses Wissen schenkt mir gerade einen Hauch Optimismus, dass diese erzwungene Veränderung vielleicht etwas Positives in sich trägt, das wir heute noch nicht sehen können. Vielleicht finden wir ein traumhaftes, neues Zuhause wo wir tiefe und feste Wurzeln schlagen werden? Werden wir am Ende dem miesen Kündigungsschreiben ewig dankbar sein?
Hilft eine solche Schwebephase, um das eigene Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten? Vielleicht muss man manchmal sogar schweben, um danach neu zu wurzlen? Vergleichbar mit einem Löwenzahnsamen?